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Teufelsrad und Glücksrad auf dem Andreas-Markt

Auf einem Video über das Münchner Oktoberfest sah ich neulich, dass es das Teufelsrad immer noch gibt, das mir aus meiner Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit so gut bekannt ist.Das weckte alte Erinnerungen.

Nach der Währungsreform von 1948, der 1949 die Gründung der Bundesrepublik Deutschland folgte, sowie der Einführung der Sozialen Markwirtschaft durch Ludwig Erhard und  durch den Marshall-Plan wuchs in der Nachkriegszeit allmählich in Westdeutschland wieder die Wirtschaft.
In den 50iger Jahren besserte sich zusehends die Lage auf dem Arbeitsmarkt, und man sprach vom Wirtschaftswunder.
Auch in meiner Familie hatten alle wieder einen festen Arbeitsplatz.Da das Einkommen meiner Eltern aber fast nur für die Existenzbedürfnisse der Familie reichte, gab es für uns vier Kinder natürlich auch kein Taschengeld. Da mussten wir uns selbst etwas verdienen.Ich arbeitete einmal in der Woche als Bücherkind in der Volksbücherei unsrer Stadt. Jeden Dienstag sortierte ich nachmittags drei Stunden lang die zurückgegeben Bücher wieder an ihren Platz in den Regalen ein. Dafür erhielt ich 60 Pfennig; aber vor allen Dingen durfte ich mir kostenlos Bücher ausleihen, wovon ich reichlich Gebrauch machte.Mit dem Lesen erschloss sich mir die Welt.
Es gab ja auch noch kein Fernsehen, geschweige denn alle elektronischen Geräte, wie sie den Kindern und Jugendlichen heute zur Verfügung stehen. Aber, was man nicht kennt, vermisst man auch nicht.

Ein bei uns Kindern besonders beliebtes Ereignis in unsrer Stadt war immer der Andreas-Markt, den es bereits seit 1350 gegeben haben soll.
Wir freuten uns auf diesen großen Jahrmarkt, der jährlich ab dem 30. November auf dem Elsässer-Platz stattfand. Meine Tanten und Onkel, die wie meine Mutter im West-End aufgewachsen waren und denen der Markt deshalb schon seit ihrer Kindheit vertraut war, erwiesen sich als freigiebig und schenkten ihren Nichten und Neffen jeweils eine DM aus diesem besonderen Anlass.
Das war relativ viel Geld für mich ( ein Brötchen kostete damals 5 Pfennig).
Eine Mark, die mir für mein Vergnügen auf dem Markt zur Verfügung stand! Aber auch Geld, das ich mir bei der Wahl der Attraktionen sorgfältig einteilte.
Die Vorfreude war immer groß, wenn ich von der Gneisenau-Straße in die Klarenthaler Straße einbog, am „ Dippemarkt“ mit seinen Ständen und den vielen Steingut-Gefäßen vorbei ging und von dort aus bereits die bunten Lichter der andern Buden sah.
Bevor ich mir irgendetwas leistete, spazierte ich über den ganzen Platz, um dieses Fest der Sinne zu genießen. Es duftete nach Bratwurst, aber auch nach gebrannten Mandeln und Lebkuchen. Andächtig schaute ich zu, wie man Zuckerwatte in einem großen Kupfer-Kessel zauberte, und manchmal gönnte ich mir auch welche.
Hier schienen Entbehrungen der Kriegs-und Nachkriegszeit vergessen zu sein. Lachend fuhren die Fahrgäste mit der Berg- und Talbahn oder der Geisterbahn.

Aber es gab auch Kurioses, wo Menschen sich zur Schau stellten wie
„ Die dicke Berta“; in einer Zeit, als die meisten Menschen eher noch untergewichtig waren, wohl eine Sensation.
Beim „Hau-den-Lukas“ konnte man mit einem großen Hammer seine Schlagkraft testen.
Geschicklichkeit mit Ringen, die über Gegenstände zu werfen waren, oder das Abwerfen von Blechbüchsen lockten die Jüngeren, während die Erwachsenen, meistens Männer, an den Schießbuden ihre Treffsicherheit auf die Probe stellten.
In einem sogenannten „ Lach-Kabinett“, fand man sein Konterfei durch Spiegel verzerrt wieder, was amüsant war.
Viele versuchten andererseits ihr Glück, indem sie Lose kauften, um einen der Hauptgewinne ( Teddybären oder Puppen), die aufgereiht in einem großen Wagen präsentiert wurden, zu erhalten.Da konnte man sein Geld schnell los werden.
Besser war da für mich schon ein kleiner Stand, wo ein Glücksrad überschaubar war, inmitten vieler Preise, die man gewinnen konnte. Auf eine weiße, runde Scheibe, die in zwölf Sektoren eingeteilt war, die verschiedene Vornamen trugen, legte man jeweils seine 10 Pfennig als Einsatz. Der Schausteller gab dem Rad, das sich unter der Scheibe befand, einen Schubs, so dass es sich drehte. Dabei leuchtete immer ein Name auf. Derjenige, dessen gewählter Name bei Stillstand des Rades noch leuchtete, hatte gewonnen und durfte sich etwas von den Waren auf dem Tisch aussuchen.
Bevor ich mitspielte, beobachtete ich immer sehr lange, welche Namen oft siegten. Danach setzte ich nur einmal und gewann meistens.Noch heute erinnere ich mich an den Ausruf: „ Die Meta hat die Auswahl!“
Dieses Spielen bildete immer den Abschluss meines Marktbesuches, und ich trug meine gewonnene Trophäe stolz nach Hause.

Die Hauptattraktion für mich war aber jedes Jahr immer das Teufelsrad. Da konnte man für 20 Pfennig Eintrittsgeld so lange bleiben, wie man wollte.In der runden Arena des Zeltes, das viel Platz für Zuschauer bot, drehte sich eine große, glatt geschliffene Holzscheibe, die etwa acht Meter Durchmesser hatte und von einem erhöhten Punkt aus zur Peripherie des Kreises hin abschüssig war.
Auf dieser Plattform platzierten sich die Mitfahrenden und versuchten dabei, sich auf der Scheibe zu halten, während sie sich drehte.Da die Zentrifugalkraft mit der Drehgeschwindigkeit wuchs, rutschten viele sehr schnell hinunter, was lustig wirkte und die Zuschauer zum Lachen brachte. Wer sich geschickt lange auf der Scheibe hielt, weil er oben in der Mitte war, wurde dann mit einem weichen, großen Lederball, der an einem Seil hing, beworfen, bis auch er aufgab und hinab glitt.

Da ich wusste, dass ich bei meinem Besuch auf dem Andreas-Markt auf das Teufelsrad gehen würde, zog ich immer meine Turnschuhe an, weil ich mich dann durch die Gummisohlen besser auf der Scheibe abstützen konnte.Einmal habe ich es dann auch geschafft, mich so lange zu halten, bis der Lederball kam, und freute mich über den Applaus der Zuschauenden.  Dass der Schausteller generell auch an der Schadenfreude der Zuschauer verdiente, wenn die Mitfahrenden komische Bilder abgaben bei dem Versuch,  der Fliehkraft zu trotzen, störte mich da wenig.

Dieses Rad, das man wegen seiner „Tücke“ (der Zentrifugalkraft), die dafür sorgte, dass sich keiner halten konnte, nach dem Teufel benannt hatte, war für mich immer eine sportliche Herausforderung und ließ mich eher daran denken, dass man sich bemühen musste, gegen alles anzukämpfen, was einen abrutschen lassen könnte, ganz gleich wie auch das Leben sich  drehte.

© Text: Ingrid Herta Drewing

Foto: Pixabay, Teufelsrad, Oktoberfest 2016

Einbrecher

Ein regennasser Abend, so triste wie Brigittes Stimmung. Müde und abgespannt betrat sie das Treppenhaus des vierstöckigen Mietshauses, in dem sie wohnte.
Noch den Briefkasten leeren und dann schnell nach Hause , duschen, etwas essen, die Beine hochlegen , entspannen und noch ein bisschen lesen.
Langsam trottete sie die Treppen hoch zu ihrer kleinen Wohnung.
Na ,wundervoll! Die Birne war mal wieder hin, jetzt durfte sie im Dunkeln zu ihrer Wohnung hinauf steigen.Aber was war denn das? Ihre Wohnungstür war einen Spalt breit geöffnet. Irgendwer musste da unerlaubt eingedrungen sein.Und ihre schwerhörigen Nachbarn hatten natürlich nichts davon bemerkt.Aber Einbrecher, bei ihr? Als ob es da etwas zu holen gäbe! Nun vielleicht haben die mir ja etwas mitgebracht, sagte sie sich leicht sarkastisch.
Was sollte sie machen, in die Wohnung gehen und nachschauen oder gleich die Polizei anrufen? Man konnte ja heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Dennoch öffnete sie die Tür weit und schlich hinein. Um sich nicht zu verraten, ließ sie das Flurlicht ausgeschaltet. Im Wohnzimmer brannte Licht, es schimmerte unter der Türe durch. Der Einbrecher war also noch da. Nein, es waren offenbar zwei. Sie hörte, wie der eine laut sagte: “ Los, beeil dich, sieh zu, dass du die Schmuckschatulle bald findest! Sie kann jeden Augenblick kommen, und dann hetzt sie die Bullen auf uns.“ Sie ist schon da, Jungs, und von wegen Schmuckschatulle, da könnt ihr lange suchen! Mein bisschen Modeschmuck ist in der alten Kaffeetasse im Küchenschrank. Wie waren diese dämlichen Diebe nur darauf gekommen, ausgerechnet bei ihr einzubrechen? Aber sie musste dennoch vorsichtig sein, dass sie nicht entdeckt wurde. Es waren schon Menschen für weniger umgebracht worden.Als sie sich gerade wieder ins Treppenhaus begeben wollte, um mit ihrem Handy die Polizei anzurufen, öffnete sich die Wohnzimmertür. Eine Sekunde lang stand sie steif vor Schreck da, aber dann versteckte sie sich schnell hinter der geöffneten Tür. Da hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Nachbarin: „Mensch, Peter, du hast schon wieder mal vergessen die Wohnungstür zu schließen, als du den Wasserkasten nach oben gebracht hast. Da kann uns ja jeder überfallen. Und alles nur, weil du nicht schnell genug zu deinem Fernsehkrimi kommen kannst!“ Erleichtert trat Brigitte hinter der Tür hervor, wollte erklären, was geschehen war, als Frau Sorge, die sie im Dunkeln nicht erkannt hatte, laut aufschrie und dann ohnmächtig auf dem Veloursläufer zusammensackte. Herr Sorge fand sie erst, als Brigitte schon damit beschäftigt war, seine Frau in die stabile Seitenlage zu bringen, sie auf die Wange patschte und laut bei ihrem Namen rief. Er war sehr von ihrer Hilfe angetan und bedankte sich dafür, dass sie so schnell herbeigeeilt sei, um zu helfen. Denn er war so sehr in den Fernsehkrimi vertieft gewesen, dass er den Schrei seiner Frau erst sehr spät registriert hatte.Glücklicherweise erholte sich Frau Sorge sehr schnell wieder von dem Schock. Und als Brigitte ihr Missverständnis aufgeklärt hatte, dass sie im Dunkeln, wohl auch weil sie so müde war, die Wohnung verwechselt hatte, konnten sie sogar über den vermeintlichen Einbrecher lachen.

Ingrid Drewing

Einsam im alten Haus

„Verkaufen! Zu weit abgelegen, zu alt. Du wirst sehen, das ist ein Fass ohne Boden, immerzu reparaturanfällig!“, sagte der Rest der Familie.Sie aber hatte sich in dieses Haus verliebt, das ihr ihre Tante vererbt hatte, und behielt es.

Schon in ihren Kindertagen war sie gerne hier zu Besuch gewesen. Das Haus hatte etwas Geheimnisvolles, und der verwunschene Garten war ihr kleines Paradies. Ihre Tante hatte ihn sorgsam gepflegt, obwohl man es diesem Naturgarten nicht auf den ersten Blick ansah. Ob sie das auch schaffen würde? Da sollte sie sich wohl besser um professionelle Hilfe kümmern, zumal sie ja nicht mehr taufrisch war, milde ausgedrückt.

Auch hatte sie wieder intensiv damit begonnen, zu malen und zu dichten, seit ihr Mann vor zehn Jahren gestorben war. Ihre Kinder waren erwachsen, lebten ihr eigenes Leben. Sie hatte endlich die Zeit dazu, hier in der Stille ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen, den sie früher wegen ihrer Familie nur als Hobby ab und zu pflegen konnte.

Jutta hatte sich zwar lange Zeit inständig darum bemüht, sie zu verkuppeln. Aber sie konnte ihre Freundin davon überzeugen, dass sie nach Svens Tod auch sehr gut alleine zu leben verstand. Jutta nannte sie deshalb einen hoffnungslosen Fall und hatte ihr prophezeit, sie würde hier in ihrem Hexenhaus alt und einsam sterben. Doch das konnte sie nicht erschrecken.

Einsam zu sterben, war das nicht das Los vieler Menschen? Sie erinnerte sich noch gut daran, dass ihr Vater ganz allein im Krankenhaus gestorben war; man hatte die Familie erst am nächsten Tag von seinem „Ableben“(so sagte man es am Telefon) unterrichtet. Nicht jedem war es vergönnt, einen lieben Menschen auch beim Sterben an seiner Seite zu wissen. Diese Szenen, in denen der Sterbende sich von dem Kreis seiner Lieben verabschiedet und fast majestätisch ruhig in die andere Welt hinüber gleitet, sie waren lange schon Geschichte und bestenfalls noch in Filmen zu sehen. Die Wirklichkeit war anders, brutal!Im Augenblick des Todes war man allein.

Zu dieser Erkenntnis war sie gekommen, nachdem sie ihren Mann an jenem Morgen vor zehn Jahren tot neben sich im Bett vorgefunden hatte. Ein schöner Tod für Sven, wie die meisten behaupteten, die davon erfuhren. Sie hingegen war völlig fassungslos. Kein Abschied, kein Hinweis, der Tod hatte ihn einfach im wahrsten Sinn des Wortes von ihrer Seite weggerissen, Herzinfarkt! Und sie hatte nichts gespürt. Wie ein Blatt, das leicht und unbemerkt vom Baum fällt, war er einsam neben ihr gestorben. Am Abend zuvor hatten sie noch Urlaubspläne geschmiedet, als sei ihnen alle Zeit der Welt gegeben.

Wie erstaunt wir Menschen doch immer sind, wenn der Tod in unser Leben tritt, so als hätten wir das ewige Leben auf Erden gepachtet. Aber man muss ihn ja auch verdrängen, um genug Kraft für das Leben zu haben, das uns schon genug Zugeständnisse abverlangt.

Sie hatte nach Svens Tod, damit begonnen, bewusster zu leben. Das Lachen eines Kindes, eine Blume, ein Vogel, ein Wolkenbild am Himmel, die Natur, alles Leben hatte für sie an Bedeutung gewonnen. Obwohl als Malerin schon immer mit wachem Blick allem zugewandt, sah sie ihre Umgebung auf eine neue Weise. Sie fühlte sich mit allem verschwistert in der Vergänglichkeit, wollte den Augenblick der Schönheit des Lebens erkennen, erfühlen, festhalten, in Farbe auf die Leinwand bannen oder im Gedicht erklingen lassen. Poesie war ihr Schlüssel zum täglichen Paradies.Und dazu gehörte auch, dass sie dieses alte Haus und seine Geschichte bewahren musste. Gegen die Vergänglichkeit und das Vergessen angehen durch Malen und Schreiben. Sich nicht damit abfinden, dass der Tod das persönliche Leben und der Bagger dieses alte Haus wegräumte. Natürlich galt es auch, immer wieder dem neuen Leben Platz zu machen .Der Kreislauf des Lebens war ihr vertraut. Sie wusste, dass ihre Gene in ihren Kindern weiterlebten. Aber sie wollte, dass auch das Unteilbare, Eigenständige, Persönliche noch Raum hatte, Seele, Geist, wie auch immer man es nennen mochte. Hier in diesem Haus lebte ihre Tante weiter. Der Apfelbaum ,die Kräuterschnecke, alle Pflanzen des Gartens erinnerten an ihr Wirken.

Sie würde nun alles hegen, ihr eigenes Leben damit verknüpfen, in Bildern und Gedichten bewahren als einen Schatz ihres persönlichen Lebens.Und wer weiß, vielleicht würde ihn ja eines Tages eines der Enkelkinder heben und bergen.

Ingrid Drewing

Die Unterschrift

Ich hatte gerade die Fehlerberichtigung einer Klassenarbeit durchgelesen und überprüfte nun, ob die Kenntnisnahme der Leistung und der Note durch die Unterschrift eines Elternteils bestätigt worden war, und stutzte. Das sah doch ganz nach einer Fälschung aus! Sollte der Junge die Unterschrift seines Vaters nachgeahmt haben? Sollte er sich davor gefürchtet haben , die Note ausreichend zu Hause vorzuzeigen? Was sollte ich tun? Ihn auf meinen Verdacht hin ansprechen oder es übersehen und ihn im Auge behalten? Da musste ich sensibel vorgehen, das wusste ich aus eigener Erfahrung.

Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Demütigung, die ich als Schülerin der sechsten Klasse erlitten hatte.Unser Englischlehrer, für den wir alle an unserer Mädchenschule schwärmten, war er doch einer der wenigen jüngeren Lehrer, die wir in den 50iger Jahren an der Schule erlebten, war der Anlass meines Kummers gewesen! Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, wo er seinen pädagogischen Sachverstand und sein Einfühlungsvermögen an diesem Tag gelassen hatte. Aber Gesetz und Ordnung beherrschten damals noch vorrangig den Schulalltag.

Tatsache war, als er durch die Klasse ging und die Unterschriften kontrollierte, glaubte er, ich hätte die Unterschrift unter meiner Englischarbeit gefälscht. Zugegeben, sie unterschied sich stark von den vorherigen Unterschriften, denn sie war nicht in Schreibschrift gehalten, sondern in sehr schöner Druckschrift. Weinend beteuerte ich ihm meine Unschuld ,sagte wiederholt, meine Mutter habe die Arbeit unterschrieben, was ja auch wirklich der Wahrheit entsprach. Er glaubte es mir nicht, und was am schlimmsten war, er stellte mich vor der ganzen Klasse bloß und bezog sogar meine Mutter in diese Demütigung mit ein, indem er eine Mitschülerin noch während der Unterrichtszeit zu uns nach Hause schickte. Sie sollte meine Mutter zu dem Fall befragen. Ich fühlte mich behandelt wie ein Schwerverbrecher und schämte mich, obwohl ich ja gar nichts ausgefressen hatte.

Meine Mutter bestätigte die Richtigkeit meiner Aussage, machte sich aber Vorwürfe. Sie war nämlich über meine Zwei in der Englischarbeit so erfreut, dass sie besonders schön unterschreiben wollte und hatte dafür ihre Druckschrift gewählt.

Wie hatte mein Englischlehrer nur annehmen können, dass ein Kind seine gute Note nicht den Eltern vorzeigt? Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, dass ich es vergessen und deshalb nun aus Furcht vor einem „Ordnungsstrich“ die Unterschrift vorgetäuscht hätte. Aber dabei hatte er übersehen, dass Ordnung dem Menschen dienen muss und nicht der Mensch der Ordnung. Sein Vorgehen war mehr als unverhältnismäßig.Damals ist mir bewusst geworden, wie schnell man durch geäußertes Misstrauen einen Menschen verletzen kann, besonders die zarte Seele eines Kindes.

Ich schloss das Arbeitsheft und nahm mir vor, meinem Schüler nichts von meinem Verdacht zu sagen, zumal ich seine Eltern am Elternsprechtag in einer Woche ohnehin über seinen befriedigenden schriftlichen Leistungsstand informieren würde. Zuvor wollte ich aber in einer Klassenleiterstunde anhand einer Beispielgeschichte aus dem Fundus “Noten und Angst“ das Problem allgemein thematisieren, um zu versuchen, meinen Schülern im Gespräch die Furcht vor Noten und dergl. zu nehmen.

Denn im angstfreien Raum lebt und lernt es sich besser.

Ingrid Drewing

Das dunkelbraune Poesiealbum

Ja, es gibt sie noch immer, diese Poesiealben, wenn sie auch ein wenig anders gestaltet sind.

Heute schaut dich kein weißes Blatt mehr an und fordert dich indirekt auf, ja fein säuberlich zu schreiben und schöne Glanzbildchen einzukleben. Auf einem farbigen Hintergrund gibt es Fragen nach den Vorlieben und Abneigungen der eintragenden Person. So ein Freundschaftsbuch, wie es heute genannt wird, markiert aber meistens noch immer den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Als Teenager fühlt man sich schon ein wenig erwachsen und sammelt hier Eintragungen von Menschen, die man mag.
Damals in der Nachkriegszeit waren es überwiegend die Mädchen, die Poesiealben führten.11 Jahre war ich alt, als mich meine gleichaltrige Freundin Gudrun bat, mit ihr ins einzige Kaufhaus der Stadt zu kommen, um für sie ein Poesiealbum auszusuchen.

Ich hatte auch schon eifrig gespart, um eines kaufen zu können. Aber mir fehlten noch 3 DM. Das war damals viel Geld, z.B. kostete ein Bällchen Eis nur 10 Pfennige. Taschengeld gab es nicht. Wir waren vier Kinder, und unsere Eltern rackerten sich ohnehin schon ab, um die Familie durchzubringen. Frühestes in einem Monat, an meinem Geburtstag würde ich auch in der Lage sein, mir diesen Wunsch zu erfüllen.

Ich arbeitete damals immer einmal in der Woche nachmittags in der Stadtbücherei als Bücherkind. Da hatte ich Bücher, die zurückgegeben worden waren, wieder in die Regale einzusortieren. Der Vorteil dieser Tätigkeit war, dass ich mir kostenlos Bücher ausleihen konnte und außerdem 60 Pfennige verdiente. Nach jedem dieser „Arbeitstage“ ging ich, einen großen Stapel Lesefutter in der Tasche tragend, mit dem selbstverdienten Geld stolz nach Hause. So viele Bücher wie damals habe ich erst wieder in meiner Studienzeit gelesen.

Gudrun, als Einzelkind wohlhabender Eltern, bekam reichlich Taschengeld und konnte sich so einiges leisten, was mir versagt blieb. Aber das war (aus heutiger Sicht) nicht unbedingt von Nachteil für mich. Wäre ich sonst so hautnah an die vielen Bücher herangekommen? Gelegenheit macht Liebe! Hier galt das für mein Lesen ganz gewiss.

Im Kaufhaus angekommen,steuerten meine Freundin und ich in der Papierwarenabteilung zum Regal der Poesiealben. Das Angebot war nicht gerade überwältigend. Vier Alben gab es noch zu kaufen; drei waren dunkelbraun eingebunden, aber eines strahlte mich in leuchtendem Rot mit Goldrand geradezu an. Wie gerne hätte ich es jetzt schon besessen! Aber ich musste das Geld ja erst noch zusammensparen.

„Was meinst du, welches soll ich mir kaufen? Welches findest du am schönsten?“, fragte Gudrun, mich aus meinen Überlegungen holend.

Und plötzlich war sie da, die böse, egoistische Stimme: ‚Sag ja nicht das Rote, sonst kauft sie es sich, und du musst dich dann mit einem der braunen Restexemplare begnügen! So schnell gibt es hier keine neuen roten Alben zu kaufen!‘

„ Ich würde mir das braune Album kaufen, das gefällt mir am besten; das sieht irgendwie edel aus.“, log ich meine Freundin an. So ganz wohl war mir zwar dabei nicht. Aber ich beruhigte mein Gewissen, indem ich mir einzureden versuchte, es sei es ihr wohl nicht so wichtig wie mir . Gudrun folgte tatsächlich meinem verlogenen Rat und kaufte sich erfreut das dunkelbraune Poesiealbum.

„Lügen haben kurze Beine.“, sagt das Sprichwort. Meine Lüge hatte relativ lange Beine. Niemand erfuhr davon, nur ich wurde auf nachhaltige Weise von ihr eingeholt.Gudrun schenkte mir nämlich freudestrahlend zu meinem Geburtstag das dunkelbraune Poesiealbum, das ich mir ja quasi selbst ausgesucht hatte.

Das war mir eine Lehre, die mich ein Leben lang begleitet hat, die Erkenntnis, wohin Falschheit, Lüge und Egoismus führen .

Das dunkelbraune Poesiealbum bewahre ich übrigens noch immer auf.

Ingrid Drewing