Die Unterschrift

Ich hatte gerade die Fehlerberichtigung einer Klassenarbeit durchgelesen und überprüfte nun, ob die Kenntnisnahme der Leistung und der Note durch die Unterschrift eines Elternteils bestätigt worden war, und stutzte. Das sah doch ganz nach einer Fälschung aus! Sollte der Junge die Unterschrift seines Vaters nachgeahmt haben? Sollte er sich davor gefürchtet haben , die Note ausreichend zu Hause vorzuzeigen? Was sollte ich tun? Ihn auf meinen Verdacht hin ansprechen oder es übersehen und ihn im Auge behalten? Da musste ich sensibel vorgehen, das wusste ich aus eigener Erfahrung.

Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Demütigung, die ich als Schülerin der sechsten Klasse erlitten hatte.Unser Englischlehrer, für den wir alle an unserer Mädchenschule schwärmten, war er doch einer der wenigen jüngeren Lehrer, die wir in den 50iger Jahren an der Schule erlebten, war der Anlass meines Kummers gewesen! Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, wo er seinen pädagogischen Sachverstand und sein Einfühlungsvermögen an diesem Tag gelassen hatte. Aber Gesetz und Ordnung beherrschten damals noch vorrangig den Schulalltag.

Tatsache war, als er durch die Klasse ging und die Unterschriften kontrollierte, glaubte er, ich hätte die Unterschrift unter meiner Englischarbeit gefälscht. Zugegeben, sie unterschied sich stark von den vorherigen Unterschriften, denn sie war nicht in Schreibschrift gehalten, sondern in sehr schöner Druckschrift. Weinend beteuerte ich ihm meine Unschuld ,sagte wiederholt, meine Mutter habe die Arbeit unterschrieben, was ja auch wirklich der Wahrheit entsprach. Er glaubte es mir nicht, und was am schlimmsten war, er stellte mich vor der ganzen Klasse bloß und bezog sogar meine Mutter in diese Demütigung mit ein, indem er eine Mitschülerin noch während der Unterrichtszeit zu uns nach Hause schickte. Sie sollte meine Mutter zu dem Fall befragen. Ich fühlte mich behandelt wie ein Schwerverbrecher und schämte mich, obwohl ich ja gar nichts ausgefressen hatte.

Meine Mutter bestätigte die Richtigkeit meiner Aussage, machte sich aber Vorwürfe. Sie war nämlich über meine Zwei in der Englischarbeit so erfreut, dass sie besonders schön unterschreiben wollte und hatte dafür ihre Druckschrift gewählt.

Wie hatte mein Englischlehrer nur annehmen können, dass ein Kind seine gute Note nicht den Eltern vorzeigt? Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, dass ich es vergessen und deshalb nun aus Furcht vor einem „Ordnungsstrich“ die Unterschrift vorgetäuscht hätte. Aber dabei hatte er übersehen, dass Ordnung dem Menschen dienen muss und nicht der Mensch der Ordnung. Sein Vorgehen war mehr als unverhältnismäßig.Damals ist mir bewusst geworden, wie schnell man durch geäußertes Misstrauen einen Menschen verletzen kann, besonders die zarte Seele eines Kindes.

Ich schloss das Arbeitsheft und nahm mir vor, meinem Schüler nichts von meinem Verdacht zu sagen, zumal ich seine Eltern am Elternsprechtag in einer Woche ohnehin über seinen befriedigenden schriftlichen Leistungsstand informieren würde. Zuvor wollte ich aber in einer Klassenleiterstunde anhand einer Beispielgeschichte aus dem Fundus “Noten und Angst“ das Problem allgemein thematisieren, um zu versuchen, meinen Schülern im Gespräch die Furcht vor Noten und dergl. zu nehmen.

Denn im angstfreien Raum lebt und lernt es sich besser.

Ingrid Drewing


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