Stanniolvögel

Sie saß nachdenklich am Tisch und faltete aus dem Schokoladenpapier Vögel, einen nach dem anderen; Stanniolvögel, die fliegenden Kranichen glichen.
Wegfliegen, alles hinter sich lassen! Aber wohin? Sie konnte sich nicht einfach  ziellos treiben lassen. Sie hatte auch an das Kind zu denken, das sie unter ihrem Herzen trug.
Was war das nur für eine Welt? Vor einer Woche war Kennedy ermordet worden.Was zählte ein Menschenleben noch? Wo blieben Menschlichkeit und Liebe? Warum war etwas so Wunderbares wie das Kind ihrer Liebe in ihrem Fall plötzlich etwas Anstößiges? Warum machte die Gesellschaft es einer werdenden Mutter so schwer,wenn sie unverheiratet war? Sie liebte ihn, aber er stand nicht zu ihr, obwohl sie seit fünf Jahren heimlich verlobt waren und sie seinen Ring trug. Standesunterschiede im zwanzigsten Jahrhundert, dass es das noch immer gab!
Sie hatte nun auch ihre Prioritäten gesetzt und sich von ihm getrennt. Eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Das war für sie mehr als eine reine Glaubensfrage. Das rührte an ihre Existenz, an den Sinn des Lebens. Auch hätte sie damit noch nachträglich ihre Liebe negiert. Sie musste einen Ausweg finden. Sie würde ihr Studium aufgeben und eine Erwerbsarbeit aufnehmen, die sich mit ihrer Situation vereinbaren ließ. Sie hatte ja  schon heimlich in benachbarten Städten in einigen Kinderheimen vorgesprochen ,um zu erfahren, ob sie dort arbeiten und auch ihr Kind nach der Geburt mitbetreuen könnte. Noch fehlten Zusagen. Aber sie war sich auch nicht ganz sicher, ob sie sich endgültig für diesen Weg  entscheiden wollte.
„Sag’ mal, mein Vögelchen, warum willst du wegfliegen?“, hörte sie plötzlich ihre Patentante sagen, die sie offenbar schon eine Weile beobachtet hatte und einen der Stanniolvögel in die Höhe hielt. Sie schaute auf, als sei sie bei schlimmer Tat ertappt worden, und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl von ihrer Tante nun wirklich nichts  zu befürchten war. Hatte sie doch in den 21 Jahren ihres Lebens nur Liebe und Güte von ihr erfahren. Aber gerade deshalb schämte sie sich davor, ihr und ihrer Mutter Schande zu machen, wie das im Allgemeinen so genannt wurde.
„Mein Liebes, ich weiß, was in dir vorgeht. Ich kann es an deinem Gesichtsausdruck erkennen. Als ich schwanger war, hatte ich auch diese großen Augen und eine fast anämische Blässe. Das haben wohl alle Frauen unserer Familie, wenn sie in Hoffnung sind.  Du weißt, dass du nicht allein bist. Wir sind immer für dich da.“, sagte ihre Tante liebevoll.
Wie gut das tat! Der Bann war gebrochen. Da war sie , die Brücke, über die sie in ihr vertrautes Leben zurückgehen konnte, gemeinsam mit ihrem Kind.

Sie legte die Stanniolvögel zur Seite, vertraute sich ihrer Tante an und wusste, nun würde alles gut werden.

Ingrid Herta Drewing


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