Im Blickpunkt

Du fühlst dich so seltsam zerrissen,
verstehst nicht mehr dieses Spiel.
Was einmal so klar, alles Wissen
um Würde, Recht, Menschlichkeit Ziel,
kommt es jetzt abhanden, geht fort
hier in unsrem Land, auch vor Ort?

Es wachsen die Ängste vor andern:
Millionen, die noch auf der Flucht
in unsre Reviere einwandern.
Abgrenzen wird nun fast zur Sucht.
Europa, mit sich nicht im Reinen,
vermag sich auch da nicht zu einen.

Und täglich die Bilder, die Boote
befrachtet mit Menschen, zu schwer,
sie kentern, und Tausende Tote
verschlingt das azurblaue Meer.
Wie groß muss sie sein, ihre Not,
dass sie nicht die Furcht schreckt vor Tod?

In Medien die Nachricht – Bedauern
kurz als Ritual rückt ins Bild.
Dich lässt deine Ohnmacht erschauern,
dein Mitleid dies‘ Elend nicht stillt,
stehst still mit gefalteten Händen
und betest, das sollt‘ endlich enden!

© Ingrid Herta Drewing,2018

Flucht

Verloren Heimat, Herd und Haus,
im Krieg zerstört, was euch gegeben,
da zieht ihr in die Fremde aus
zu schützen euer nacktes Leben.

Nichts, glaubt ihr, könnt ihr noch verlieren,
wollt finden einen Friedens-Ort,
lasst euch von Schleppern schikanieren,
auf diesem Weg zum sichren Hort.

Vertrieben durch Gewalt und Tod,
riskiert ihr wilden Meers Gefahren.
Wie groß muss sie wohl sein die Not,
wenn Angst euch kann vor Furcht bewahren?

Europas Ufern gilt das Hoffen.
Hier wähnt ihr, geb’s ein gastlich‘ Land,
das euch, die ihr von Leid betroffen,
reich‘ freundlich helfend seine Hand.

Doch tönt’s auch hier, das Boot sei voll;
man schürt die Furcht vor eurer Reise,
vergiftet böse Zoll für Zoll,
wo Menschlichkeit sollt siegen weise.

© Ingrid Herta Drewing, 2015